Winterblüte
Text: Ludwig Fischer
Fotos: Ludwig Fischer und Staudengärtnerei Gaißmayer
Im Winter tut sich ja nichts Bemerkenswertes im Garten – denkt man. Einmal abgesehen davon, dass sich an Sträuchern und Bäumen manche Knospe auf den Frühling vorbereitet und dass sogar einige Baumblüten – bei Hasel und Erle, bei Weiden und Kornelkirschen – sich in längeren milden Phasen hervorwagen, braust im Boden die ganze Zeit über sozusagen das volle Leben – außer bei strengen Frösten in den obersten Schichten. Was die Regenwürmer und Springschwänze, Tausendfüßler und Nematoden, die Billiarden von Mikroben und das unfassbar vielfältige Gespinst von Pilzfäden auch in den Wintermonaten verrichten, entzieht sich unserer Aufmerksamkeit. Aber wären sie nicht weiterhin am Werk, stünde es sehr schlecht auch um unsere Gärten. Was da unterirdisch vor sich geht, ahnt man allenfalls, wenn sich – wie jetzt bei uns – auf dem Rasen die Wühlmaushaufen über Nacht selbst bei starkem Bodenfrost vermehren. Ich lasse die verhassten Tiere gewähren, weil ich den Schleiereulen ihre Beute gönne.
Dass es aber wunderbare Pflanzen gibt, die mitten im Winter blühen, scheint die wenigsten Leute zu interessieren, die einen Garten ihr Eigen nennen. Die üblichen Frühjahrsanzeiger – Schneeglöckchen und Krokus, Forsythie und Märzenbecher – sieht man im März oder bei ungünstiger Lage spätestens im April allenthalben. Aber leuchtende Blüten im Dezember, im Januar oder Februar? Ach ja, die strahlende Christrose (Helleborus niger), die manchmal ihr reines Weiß tatsächlich gegen den angeschmolzenen Schnee rundherum aufbietet, die kennt man aus den weihnachtlichen Gartencentern. Die giftige Schönheit verlangt einen passenden Standort – am besten unter laubabwerfenden Bäumen im Halbschatten, in einem durchlässigen, aber gehaltvollen Boden. Staunässe verträgt sie gar nicht, und sie lässt sich auch sehr schlecht verpflanzen. Im Gegenzug kann sie alt werden, zwanzig Jahre und mehr. Falls sie nicht vorher ein Pilz dahinrafft, sie ist anfällig.
Die Christrose hat aber eine wenig bekannte Verwandte, die Stinkende Nieswurz, auch Palmblättrige Christrose genannt (Helleborus foetidus). Aus ihr wurde früher Niespulver hergestellt, deshalb der Name. Aber von stinken kann nicht wirklich die Rede sein.
Die wintergrüne Staude hat ledrige, tatsächlich an Palmwedel erinnernde Blätter und wird 50 bis 60 cm hoch und etwa ebenso breit. Schon dadurch ist sie ein Hingucker im lichten Halbschatten des Gartens. Unempfindlich und robust, aber nie aggressiv verdrängend, breitet sie sich langsam aus. Vor allem aber: Sie blüht reich und faszinierend mitten im Winter, mit Büscheln von glockenförmigen, hellgrünen Blüten, deren Blütenblätter meistens einen feinen roten Rand haben. Die hellen, aufragenden Stängel der Blütenbüschel sinken bei Frost ein wenig in sich zusammen, richten sich aber bei Plusgraden wieder auf.
In den milden Wintern, die inzwischen bei uns zur Regel werden, setzt die Pflanze spätestens im Januar ihre Blütenstände an, die sich dann bis in den März halten, wenn die ersten Bestäuber herumschwirren. Dieser echte Winterblüher bereichert jeden naturnahen Garten. In meinem Benkeler Garten hatte ich zwei Exemplare in einen Teppich von Turiner Waldmeister gesetzt (Asperula taurina), der mit unserem heimischen Waldmeister (Asperula odorata oder Galium odoratum) verwandt ist, ebenso wunderbar duftet und etwas höher wird. Die Gruppe löste immer wieder Erstaunen bei den Gästen aus, weil kaum jemand diese pflegeleichten, attraktiven Pflanzen kennt – ein Highlight in meinem Beet »Liebhaber des Halbschattens«.
In diesem großen Bereich unter den überhängenden Zweigen der Wilden Pflaume (Prunus cerasifera) hatte ich eine ganze Galerie von Winter- und Frühblühern versammelt, die meisten von ihnen bilden zeitig im Jahr bezauberte Teppiche: Hepatica transsilvanica, das Rumänische Leberblümchen etwa, oder die gelb blühende Hahnenfuß-Anemone (Anemone ranunculoides), und natürlich die leuchtenden Sterne von Anemone blanda (Balkan-Windröschen oder Strahlen-Anemone), eingemischt in Flächen mit Buschwindröschen (Anemone nemorosa – auch in blauen Varianten) und Scharbockskraut (Ficaria verna). Weil die Wilde Pflaume auch bereits im März zu blühen beginnt, zeitweise ein dichter weißer Schnee am schwarzen Geäst, hatte der Garten früh im Jahr wirklich etwas zu bieten, und dass manche der beglückenden Boten des erwachenden Gartenlebens bald nach der Blüte einziehen, macht ja nichts aus, es übernehmen dann andere spektakuläre Halbschatten-Akteure. Die Winter- und Frühblüher in meinen Gärten sind zum guten Teil keine Prachtstauden, sondern eigentlich wilde Gewächse, die ich gebeten habe, den Garten zu bereichern – sie vergelten es mir mit einem Blütenflor zu Zeiten, zu denen sich sonst noch kaum ein Blatt entfaltet.
Was da so zeitig im Jahr blüht, geht freilich Risiken ein, je deutlicher sich die Folgen der bedrohlichen Klimaentwicklungen zeigen, umso mehr: Die Winter werden in unseren Breiten unbestreitbar immer milder und nasser. Das bedeutet für Pflanzen, die sehr früh blühen und austreiben: Der Vegetationszyklus setzt immer früher ein – und der Schaden ist bei späten Frösten im März oder April umso größer. Im vorigen Jahr bescherte uns das Wetter noch im April einige empfindliche Fröste. Nicht nur für die Obstbäume und Beerensträucher hatte das fatale Auswirkungen, auch manche Stauden und Zwiebelgewächse erwischte es bös‘.
Es gibt unter diesen Frühblühern am Ausgang des Winters einige etwas heiklere, faszinierende Stauden, die man selten in den Gärten sieht, allen voran die Alraune (Mandragora officinarum), die im März oder April – je nach Witterungsverlauf – eine Rosette von großen, fleischigen Blättern austreibt und dann äußerst aparte, sternförmige Blüten zeigt, weißlich-grün oder auch bläulich bis violett. Die Alraune war früher die Zauberpflanze schlechthin, weil ihre fleischige Wurzel sich verzweigt und manchmal an eine kleine menschliche Figur erinnert. Sie wurde für die Wahrsagerei und für Beschwörungen benutzt. Die geheimnisvolle Pflanze ist giftig und sollte mit Vorsicht behandelt werden. Bei mir im Garten ist sie mehrfach sang- und klanglos wieder verschwunden, vielleicht war ihr der Boden denn doch etwas zu feucht, sie mag es eher trockener.
Eine andere kleine Rarität unter den früh blühenden Stauden ist das Adonisröschen (Adonis vernalis oder in der asiatischen Variante Adonis amurensis): leuchtend gelbe Sterne über fein gefiedertem Laub, das sich gerade erst zu entfalten beginnt. Die Pflanze braucht einen sonnigen, vergleichsweise trockenen Standort. Sie zieht früh wieder ein, gehört aber zu den wahren Schönheiten im zeitigen Frühjahr. Es gibt sie inzwischen mit verschiedenen Blütenfarben, mir ist die Ursprungsform am liebsten.
Und erwähnen will ich noch eine Wildpflanze, die fast nirgendwo in Gärten zu finden ist, die aber locker jeden blühenden Löwenzahn in den Schatten stellt: Huflattich (Tussilago farfara), das alte Hustenmittel. Die von halb kriechenden Stängeln getragenen Blütenkränze zeigen das intensivste Gelb, das ich im Frühjahrsgarten kenne. Die Pflanze ist launisch, versamt sich leicht, verschwindet an einem Standort, taucht an einem anderen auf. Sie mag es relativ fett und feucht und ist eben ein ausgesprochener Wildling – wer das in seinem Garten ertragen kann, wird schon im März mit einer Fülle hell leuchtender Blütenwunder belohnt.
Der unbestrittene »Star« unter den Winterblühern in meinen Gärten war und ist aber das Strauchgeißblatt (Lonicera x purpusii), eine Verwandte unserer wilden Rankpflanze Jelängerjelieber. Keine Staude, sondern ein kräftiger Strauch, der bis zu drei Meter hoch und fünf Meter breit werden kann. Die Pflanze ist »halb wintergrün«, behält also einige Blätter den ganzen Winter über, weil sie fast ununterbrochen aktiv ist: Da bei uns selbst im Dezember und Januar kaum stärkere Fröste auftreten, entfaltet sie schon lange vor Weihnachten ihre ersten filigranen, weißen Blüten und behält sie über viele Wochen, bis dann im März, wenn die ersten Hummeln und Schmetterlinge an warmen Tagen auftauchen, der ganze Busch über und über blüht. Zudem duftet die Pracht intensiv nach Vanille. Dagegen kommen selbst Echter Jasmin oder Forsythie nicht an.
Wenn der grandiose Busch den Mittelpunkt eines Bereichs bildet, in dem die Wildformen markanter Frühblüher versammelt sind – unter anderem selbstverständlich Küchenschelle (Pulsatilla vulgaris) und Elfenkrokus (Crocus tommasinianus) und ganz frühe Wildtulpen – dann kommt angesichts solcher hinreißenden Vitalität keinerlei Frühjahrsmüdigkeit auf.
Text: Ludwig Fischer
Fotos: Ludwig Fischer und Staudengärtnerei Gaißmayer