Warum Radiohören Klarheit schafft
Text und Fotos: Stefan Leppert
Fotos Christrosen im Freiland: Staudengärtnerei Gaißmayer
Alt und Jung, Arm und Reich, Ost und West – auch wenn man zur Zeit den Eindruck gewinnt, dass die Menschheit auseinanderdriftet und sie mehr trennt als eint, bleibt doch eine wesentliche Eigenschaft, die alle Menschen vom Affen, vom Hund oder von sonsteinem uns nahestehenden vierbeinigen Geschöpf trennt: Die Frage nach dem Grund. Wir alle fragen mehr oder weniger oft w a r u m ? – andere Menschen und uns selbst. Nicht immer gibt es darauf eine Antwort, was aber den fragenden Menschen bis ins hohe Alter nicht entmutigt, immer wieder Sätze mit Warum zu beginnen.
Gelegentlich kommt es vor, dass eine Antwort gegeben wird, ohne dass vorher die entsprechende Frage gestellt worden wäre. Dieses Phänomen ereignete sich am 26. November. Ich hörte Radio, an diesem Nachmittag ausnahmsweise einmal WDR 4, ein Programm, in dem Musik von Boney M oder Bonny Tyler als »Meine Lieblingshits« deklariert werden und man sich fragt, wer mit »Meine« gemeint ist. Gut, was dem Lautsprecher dort stundenlang entweicht, taugt immerhin als Baustellenmusik. Ich war dabei, Rigipsplatten anzuschrauben, und ein Akkuschrauber stört »Daddy Cool« oder »I need a Hero« zweifellos weniger als eine Bachkantate oder »Blowin' in the Wind«. In den Musikreigen streute der WDR kurze Wortbeiträge ein, und bei einem trat ich ganz nah ans Radio heran. Holger X, des Senders »Mann mit dem grünen Daumen«, wurde angekündigt. Vor mehr als zehn Jahren lernte ich Holger über eine Bekannte kennen. Er ist ein total netter Typ. Holger hatte in vergleichsweise fortgeschrittenem Alter Feuer am Tun im Garten gefangen beziehungsweise war, wie man in unseren Kreisen sagt, vom Gartenvirus infiziert worden. Etliche Jahre vor seiner Pensionierung verhalf er als WDR-Redakteur dem Thema ins Programm und ist, was ich nicht wusste, offensichtlich zum Experten avanciert. Er fragt nicht mehr, er wird gefragt.
An besagtem Samstagnachmittag wurde er zu dem spannenden Thema befragt, wie man jetzt den Balkonkasten winterfest bekommt. Mit der Vorbereitung des Substrates fing Holger richtigerweise an, riet zur Wiederverwendung von nur der Hälfte der vorhandenen Erde, um diese dann mit Sand und Kompost vom Wertstoffhof zu mischen. Den Kompost vom Wertstoffhof gebe es umsonst, so Holger. Dann kam die Bepflanzung dran. Ich habe seine Worte nicht mitgeschnitten, aber sie lauteten sinngemäß so: »Nehmen Sie Christrosen, die blühen von jetzt bis März. Bekommen Sie beim Discounter.« In der Fortsetzung fiel auch einmal der Begriff Gartencenter, bei der Schneeheide, die Empfehlung Nummer zwei, riet Holger dann wieder zum Gang zum Discounter.
Die Antwort, die ich damit auf die nicht aktiv gestellte Frage bekam, war an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen. Welche Frage? Ich behandelte sie bereits im August 2019 in diesem Magazin. Warum man sofort nach Grenzübertritt an den Gärten und am Straßengrün erkennt, dass man in Holland oder England ist. Ich hatte die Erziehung als Ursache ausgemacht und darauf, dass schon kleine Kinder auf die Schönheit von Pflanzen hingewiesen werden und das dazu noch mit botanischen Namen. An diesem Nachmittag wurde der Erklärungsversuch um eine Facette erweitert: Wir werden für dumm verkauft.
Es wäre so einfach gewesen. Und so frage ich jetzt auch mal: Warum. Warum ist Holger nicht der schlichte Satz über die Lippen gekommen: »Da gehen Sie zur Gärtnerei Ihres Vertrauens und kaufen dort die Christrosen. Beratung gibt es gratis dazu. Und wenn es bei Ihnen keine Gärtnerei mehr gibt, dann bestellen Sie sich die Christrosen bei einer guten Staudengärtnerei.« Ich habe ihn nicht gefragt, meine Antwort darauf ist vollkommen hypothetisch, also eine Behauptung: Nicht die Medien setzen die Statements, sondern die Zuhörer – und das Radio spricht nur das aus, was die Hörerschaft mag. Und diese mag vor allem: billig. Wer je in England war, kennt die dortigen Pflanzenpreise. Vielleicht drückt sich ja sogar unter anderem darin die Würdigung des gärtnerischen Berufsstandes aus.
Fatalerweise muss man annehmen, dass die Hörerschaft dem Radio-Experten alles glaubt, auch und vor allem, dass der Discounter seinem Namen alle Ehre macht. Daher war ich gestern bei einem dieser Läden und habe mich vom Preis für die auf blechernen Gitterwagen ausharrenden Knastrosen überzeugt. Es gab zwei Kategorien. Die Kleinen kosten 4,99, die großen 14,99 Euro. Zuhause angekommen verglich ich die Preise mit denen von vier mir spontan einfallenden Fachgärtnereien, hier zur Info (alphabetisch korrekt) aufgezählt: Gaißmayer 5,20 €, Kirschenlohr 5,00 €, Stade 5,15 € und Zeppelin 5,90 €. Ohne Holger hätte ich mich dieser Recherche nicht hingegeben, ich war ihm im Stillen dankbar, fühlte ich mich doch in meiner Annahme bestätigt, dass Discounter ihren Namen vor allem deshalb verdienen, weil sie Discounts fordern – vom Erzeuger
Abgesehen von der Bezugsquelle hatte der Christrosentipp eine weitere bittere Note. Helleborus sind von Haus aus langlebige Stauden, wie auch Erica carnea (die Schneeheide) ein recht langlebiger Kleinstrauch ist. Damit drängt sich eine andere W-Frage auf. W a s geschieht mit den Christrosen und der Erica, wenn die Frühlingssonne auf den Balkonkasten scheint? Ich habe meine Befürchtungen, aber da Weihnachten naht und damit das Fest der Hoffnung, bemühe ich mich im Glauben: Alles wird gut. Besser also, dass ich mich in dem Gedankenspiel übe, alle, die sich heute auf Holgers Anraten bei Penny & Co. mit Helleborus eingedeckt haben, werden die verblühten Geschöpfe im Frühling irgendwo auspflanzen, auf Omas Grab oder im Wald, vielleicht schenken sie die Christrosen ja einem befreundeten Schrebergärtner. (Wahrscheinlicher ist leider, dass sie schon Ende Januar jämmerlich aussehen und in der braunen Tonne landen. So wird zumindest Kompost draus und den gibt's bekanntlich beim Wertstoffhof. Für lau.)
Von einem Besserwisser wird, vollkommen zu Recht, nun ein brauchbarer Alternativvorschlag zur winterlichen Balkonkastengestaltung erwartet. Die am einfachsten zu realisierende Lösung wäre, ihn einfach so zu lassen, wie es der Herrgott im Winter will. Für kein lebendes Gewächs ist es ein Spaß, hier zu sein, auch für eine Gärtnereichristrose nicht. Soll es nun doch irgendwie nach Leben aussehen oder zumindest nach Sich-Kümmern, dann könnte meine Erinnerung an meine erste Vermieterin weiterhelfen, die den Krieg mitgemacht und kreative Wege gefunden hatte, ohne Geld was draus zu machen. Daher zierten bis Weihnachten irgendwo geschnittene Hagebutten ihre Balkonkästen und wenn sie matschig geworden waren, ersetzte sie diese durch orangefarbige einjährige Weidensteckhölzer, zwei Hände breit. Die meisten von ihnen trieben sogar aus und durften bleiben, bis die Geranien kamen. Die holte sie dann bei Blumen Koch. Discounter hatten damals nur Lebensmittel.
Text und Fotos: Stefan Leppert
Fotos Christrosen im Freiland: Staudengärtnerei Gaißmayer