Vom wahren Kern
Ein Beitrag von Christian SeiffertBücherfreunde bekommen bei jeder passenden Gelegenheit ein Buch geschenkt, Blumenfreunde eine Blume, einen Blumentopf. Wie einfach ist das Schenken, wenn man weiß, welche besonderen Interessen der zu Beschenkende hat. Die Tragödie ist nur, das der Bücherfreund ein paar Hundert Bücher in seinen Regalen stehen hat, die noch darauf warten gelesen zu werden. Und nicht jedes Buch ist nach dem Geschmack des Beschenkten. Ähnlich ist es um den Blumenfreund bestellt. Der Garten, das Gewächshaus platzen aus den Nähten, auch findet nicht jede Pflanze die volle Zuneigung. Aber eine Pflanze ist eine Pflanze, ein Lebewesen, das man liebevoll zu pflegen und zu hegen hat. Und so kommen zu den 100 ungelesenen Büchern ein paar Dutzend Pflanzen, meist in Töpfen, die eine erstaunliche Vitalität besitzen, obwohl man sie eigentlich zum Teufel wünschen möchte.
Manche geschenkten Azaleen gehören dazu, die bei der Weiterkultur auch noch spezielle Anforderungen an Boden und Wasser stellen. Was ist da nicht alles gezüchtet worden: Rosa mit Rot, weiß mit Rosa, gefüllt, gerüscht, gefranzt. Es bedarf schon vielen Wohlwollens gegenüber dem Gast, diese kleinen Monster am Leben zu erhalten. Dabei ist es den „Fabrikanten“ dieser Massenwaren nur recht, wenn sie so bald wie möglich in der Mülltonne landen.
Manchmal erlebt man aber Wunder, oder man glaubt, ein Wunder zu erleben. Solch ein weißlich-rosa gefülltes Exemplar hatte es offenbar satt, von mir scheel angesehen zu werden. Sie bekam einen kleinen Trieb mit einfach, großen, roten Blüten. Eine Mutation! Eine Mutation! War es aber nicht. Das „Hässliche Entlein“ war offensichtlich auf eine Unterlage veredelt worden, die sich nun selbständig zu machen begann. Ein gleichnishafter Vorgang: Wie vielen jungen Leuten wird von Eltern und Lehrern eine Ausbildung aufgezwungen, die ihrem Wesen fremd ist. Sie quälen sich durch ungeliebte Berufe. Dann aber, eines Tages, erkennen sie ihre eigentliche Neigung, packen sie beim Schopfe und schaffen es zu Leidenschaft und Größe in einem neuen schönen Beruf. So auch die Azalee, die botanisch korrekt Rhododendron Simsii Hybride heißt.
Die einstige Unterlage trägt sogar ihre ostasiatische Herkunft zur Schau. Völlig asymmetrisch, wie eine von japanischer Hand erzogene Bonsai-Kiefer sieht sie aus. nur ein kleines weißrosa Anhängsel erinnert an ihre Geschichte.
Text und Fotos: Christian Seiffert