Neue Ausgleichsflächen braucht das Land
Ein Beitrag von Stefan LeppertIch entferne mich wieder einmal etwas von der wunderbaren Welt des Kleingartens, aber man kann sich nicht immer aussuchen, wem man in die Arme radelt. Der Weg von unserem Schrebergarten nach Hause führt durch eine Siedlung, die von Insidern »Doktorensiedlung« genannt wird, weil sich durch ihre innenstadtnahe Lage und relativ großen Grundstücke nur eine gewisse Klientel das dortige Nisten leisten kann. Ich wähle für das Siedeln hier einen Begriff aus der Vogelwelt, um für die folgende Szene im Bild zu bleiben. Ich war mit dem Ausgraben zweier vertrockneter Exemplare des Wiesenknopfs fertig und befand mich auf dem Nachhauseweg, als mich zwei Gartenfreunde unseres Vereins zu sich winkten, die vor einem neuen Haus standen, welches an die Stelle eines unlängst abgerissenen getreten ist. Das alte war rund 60 Jahre alt gewesen, eingeschossig mit Dachgeschoss, hatte eine Grundfläche von geschätzt 120 Quadratmetern, incl. Garage, es hatte weiß verputzte Wände, klarlackierte Holzfenster und ein Satteldach mit roten Tonpfannen. Hätte ich es mal fotografiert. Das neue ist zweigeschossig, hat eine doppelt so große Grundfläche, eine Natursteinfassade mit anthrazitfarbigen Fensterrahmen und ein Flachdach mit Schweißbahnen. Ich glaube, wenn Architekten unter sich sind und über diesen Baustil wagen zu meckern, nennen sie solche Häuser »Schuhkartons«. Kommen wir aber zur Vogelwelt, von Architektur verstehe ich nichts.
Meine Gartenfreunde unterhielten sich darüber, was da entstanden war und – in Bezug auf den Garten – am Entstehen war. Dem Gestikulieren nach zu urteilen waren sie uneins. Meine Frage, wie man das neue Ensemble finden würde, beantwortete der eine in etwa so: »Ganz o.k., schön schlicht, kein Schnickschnack, Hochbeet aus Sandstein, hat was.« Sein Kollege sah erst ihn finster an und dann mich. »Und Du?«, fragte ich ihn. »Zum Abreihern!« Wer mit diesem Begriff aus der Vogelwelt vertraut ist weiß, dass es sich um eine Kurzbeschreibung des Vorgangs der umgekehrten Magen- und Darmentleerung handelt. Ich hätte es vielleicht etwas anders ausgedrückt, aber sein dann näher erläutertes Urteil teile ich voll und ganz. Seine Erläuterung betraf natürlich auch den Garten. In Kurzform: Was von dem Grundstück für den Garten übrig blieb, ist nicht viel. 500 qm minus Haus, minus Einfahrt (o.k., Natursteinplatten...) in Doppelgaragenbreite. Noch ist die Immobilie nicht umzäunt, wir hätten das Rechteck unversiegelter Fläche noch abschreiten können, trauten uns aber nicht. Ich schätze, es sind 150 Quadratmeter unbebaut geblieben. Vor das Haus ist noch ein freistehendes Dach geraten, das Platz für Blühendes nimmt. Blühendes? Das wird, wenn überhaupt, sich in einem Hochbeet an der Terrasse drängen, denn die Restfläche ist Rasen, der unlängst ausgerollt wurde. Willkommen in der Gegenwart – das ist nicht die erste Umwandlung eines Grundstücks in der Stadt, auf der die Proportion Gebäude zu Garten und die Oberflächenstruktur der bewachsenen Fläche neu bestimmt wurden. Auch Sie werden an Ihrem Ort solche Beispiele kennen.
Warum erzähle ich also sattsam Bekanntes? Aus zwei Gründen. Grund 1: Ich kann mich nicht daran gewöhnen. Grund 2: Kurz vor der Fachsimpelei am steinernen Schuhkarton hatte sich ein Leserbriefschreiber in den Westfälischen Nachrichten über den Verwahrlosungsgrad der Münsteraner Kleingärten beschwert und von einer »einzigen Wildnis« gesprochen. Abgesehen davon, dass dieser Mann Unrecht hat, machte ich mir Gedanken darüber, was ihn zu diesem Protest geführt hat. Man möge mir glauben, ich radle häufig durch Schrebergartenanlagen. In 99 Prozent der Parzellen gibt es mindestens einen Weg, es gibt Beete, Obstbäume, eine Laube und eins bestimmt nicht: Wildnis! Über den Pflegezustand ist natürlich nichts gesagt, aber die meisten Vereinsvorstände halten ihre GärtnerInnen im Satzungsrahmen. Wirklich erschreckend an Menschen wie dem Leserbriefschreiber scheint mir, dass sie keine Vorstellung haben von all den Zwecken, die Kleingartenanlagen heute erfüllen, dagegen vermutlich staunend an Architektenkartons mit Handtuchgärten vorbeigehen, ohne auch nur einmal an so etwas wie einen Schmetterling zu denken. KleingärtnerInnen, die nur Obst, Gemüse und Gladiolen züchten rechts und links eines blankgefegten Weges, das war einmal. Die ökologische Realität fordert anderes von den Gärtnerverbänden, und der Stress einer Jungfamilie mit Doppelverdienern will anders kompensiert werden als mit Rote Beete-Pikieren. Vermutlich hatte der Briefschreiber die Hoffnung, das Grünflächenamt möge aktiv werden und für alte Zeiten sorgen, in denen die unkrautfreien Kleingärten noch Denkmäler für Fleiß und Schweiß waren.
Wirklich betrübt hat mich in der Tat die Verwendung des Wortes Wildnis. Erstens weil es für keinen noch so verunkrauteten und schlecht möblierten Kleingarten zutrifft und zweitens, weil der Mann es in Zeiten des Artenschwundes anklagend tat, als gäbe es nichts Schlimmeres als das. In diese Kerbe haute mein Gartenfreund, als er den Reiher bemühte, um sein Gefühl auszudrücken. »Von uns Kleingärtnern wird verlangt, dass wir alles picobello haben, von vorne bis hinten Gemüse und bei 450 qm Garten mit 24 qm überdachter Fläche zurechtkommen und in der Siedlung kann man aus 400 qm Garten mal eben 100 machen. Uns droht man gleich mit dem Gesetz, hier kräht kein Hahn danach!« Der Mann hat es mit Vögeln, was hier wiederum passt, denn kein einziger Vogel, weder eine Amsel noch eine Elster, geschweige denn ein Hahn, war während unseres Plausches in besagtem Garten gehört oder gesehen worden. Die muss man sich in der Zukunftssiedlung ins Gespräch reden.
Aber es gibt Grund zur Hoffnung. Die wird herangetragen von einer Klasse, die nicht gerade in dem Ruf steht, mit neuen Konzepten die Welt zu retten und die als alternativ gelten will: dem Adel. Vier junge Herren dieser sozial exklusiven Gruppe haben vor kurzem das Unternehmen »plantgreen« gegründet, das Umweltsündern Projekte anbietet, bei denen sie ihre Schuld im Sinne des Eingriff-Ausgleich-Prinzips wieder gutmachen können. Kurz gesagt: Ich baue ein Haus oder besser eine gigantische Logistikhalle, für die 200 Bäume fallen müssen und das Grundwasser abgesenkt wird. Dann setze ich mich mit plantgreen in Verbindung, die mir Flächen anbieten, in die ich investieren kann: Moor vernässen, Wald aufforsten, Streuobstwiesen anlegen, Blühstreifen säen, Feldhecken pflanzen, alles im Zeichen von Klimawandel und Artenschwund. Wessen persönliche Ökobilanz durch Eingriffe in den Naturhaushalt ins Minus gerät, der findet mit Hilfe von plantgreen Land- und Forstwirte (adelige?), die Flächen haben für den Ausgleich, sprich, die sich die Wiedervernässung oder Aufforstung bezahlen lassen. Ich muss zugeben, der Adel hat mich wieder einmal überrascht.
Wenn ich jetzt auf dem Heimweg vom Schrebergarten am Schuhkarton mit dem Rasenfleckchen vorbeikomme, muss ich immer an plantgreen denken und nehme mir vor, den vier Herren eine weitere Flächenkategorie vorzuschlagen: Siedlungsgrün. Gut, das könnte kompliziert werden. Einfacher wäre es, die Behörden würden aufwachen und Bauherren verpflichten, sich bei plantgreen zu melden, um für ihr viel zu großes Haus Ökopunkte in eine Streuobstwiese zu stecken. Da käme richtig was zusammen. Noch einfacher wäre es, man würde sich eine zukunftsweisende Grundflächenzahl überlegen, es nicht beim Überlegen belassen, sondern sogar auf dessen Einhaltung achten und Mindeststandards bei der Gartengestaltung setzen. Im Kleingartenwesen geht das ja auch.
Text und Fotos: Stefan Leppert