Keine Blöße geben?
Ein Beitrag von Andreas BarlageMutter Erde ist eine züchtige Dame. Wo immer auch nur minimale Lebensbedingungen für Pflanzen herrschen, bedeckt sie sich mit ihnen. Hierzulande finden sich keine Stellen in freier Wildbahn, die nicht früher oder später komplett von Pflanzen bewachsen sind – sieht man einmal von Steinregionen in und außerhalb von Gebirgen ab. Meist reichen Niederschläge und Bodenverhältnisse völlig aus, um leere Flächen rasch mit Bewuchs zu füllen.
Allerdings sieht das in zahlreichen Gärten leider etwas anders aus. Ich erinnere mich gut, dass im westfälischen Harsewinkel, wo ich aufgewachsen bin, es als „ordentlich“ galt, wenn zwischen den Pflanzen ein wohlgeharkter Boden zu sehen war. Ich beobachtete sogar eine Nachbarin regelmäßig dabei, dass sie ihre halb geöffneten Rosenblüten (…natürlich die damals allgegenwärtige ‘Gloria Dei‘…) abschnitt. Ich dachte zuerst, sie würde sie in die Vase stellen, aber weit gefehlt. Die Blüten landeten in einen Eimer der dann auf dem Komposthaufen ausgeleert wurde. Ich war schockiert, denn mir gefallen Rosenblüten besonders gut, wenn sie sich voll geöffnet herschenken… drei Tage Blütenpracht vorzeitig zu entsorgen käme mir nie in den Sinn. Allen Mut eines 13jährigen in den 70er Jahren zusammengefasst , fragte ich die strenge Dame, warum sie das denn tue. Ich hoffte, einem Pflegegeheimnis auf die Spur zu kommen. Die Antwort: „Ich möchte nicht, dass die Blütenblätter auf die Erde fallen, das sieht immer so unordentlich aus.“
Diese Haltung ist scheinbar unausrottbar und findet auch heute noch allerorten traurige Exzesse in den modisch gewordenen Steinwüsten und Gabionenscheußlichkeiten, die von geschäftstüchtigen Baustoffhändlern als pflegeleicht und modisch angepriesen werden … mit dem Folgegeschäft, auch Laubpuster oder andere geräuschintensive Maschinen gleich mit zu verkaufen. Pfui Teufel!
Das traumatische frühgärtnerische Schlüsselerlebnis weckte in mir den Wunsch, fortan ganz anders zu vorzugehen. Und da meine Mutter ebenfalls keinerlei Ambitionen hatte, ihre Hobby-Gärtnerinnenehre an den „sauberen“ Standards solcher Nachbarinnen festzumachen, überlegten wir uns Alternativen. Als gestählte und realitätsnahe Managerin der Lebenswege von vier Söhnen war ihr Wahlspruch sowieso „Das macht Frau Saubermann nichts aus“ – er bezog sich nicht nur auf Tischwäsche und Kleidung.
Und jetzt bin ich endlich beim Thema.
Mama und ich suchten Alternativen zu den kahlen Bodenstellen zwischen den zumeist mittelhoch bis hoch wachsenden Pflanzenprotagonisten unseres Gartens. Ganz leicht war das an Schattenplätzen, denn dort besiedelten Veilchen und Waldsteinien bereits jeden freien Platz den sie ergattern konnten. Einmal auf diesen Trichter gekommen, scouteten wir Pflanzen, die ähnlich niedrig wachsen, aber mit halbschattigen bis sonnigen Standorten auf dem westfälischen Karnickelsand zurecht kommen. Erstaunlich, wie groß hier die Auswahl war. Das Purpurglöckchen (Heuchera sanguinea) fiel uns dabei als erstes in die Hände – allerdings war es damals noch nicht in Mode und es gab bei uns „nur“ grünlaubige Varianten mit roten Blüten. Aber das machte gar nichts, denn die sehr feinen Blütenstiele gefielen uns ausgezeichnet. Der Haken aber war, dass sie in der Blütezeit gut und gerne 40 bis 60 cm hoch wurden. Filigranität hin oder her; im Vordergrund der Beete war das nicht ganz so der Treffer. Die Lösung: Vasen füllen. Im dritten Standjahr der Heucheras schnitten wir beherzt alle blühenden Stiele von Heuchera tief ab und garnierten die frühsommerlichen Sträuße damit … sensationell! Und die ruhige Beetwirkung der niedrigen Laubhorste war wieder hergestellt. Seither gehe ich auch mit buntlaubigen Heuchera-Hybriden und ähnlich wachsenden Pflanzen wie Wollziest (Stachys byzantina), Frauenmantel (Alchemilla) oder Vexiernelke (Lychnis coronaria) genauso vor und freue mich auf üppige Blumensträuße.
Daneben hielten wir Ausschau nach Pflanzen die auch während der Blütezeit ihren kompakten Wuchs behielten. Und auch hier waren wir von der Auswahl überwältigt. Das Stichwort lautete „Steingartenpflanze“. Diese Gewächse hatten Muttern und ich bei der Auswahl der Gartenpflanzen bisher gepflegt ignoriert, da wir keine Anhänger der Steingarten-Fraktion waren und auch Mauerkronen die etwa einen Hang im Garten sehr hübsch abfangen im westfälischen Flachland nicht zu den üblichen Gartenszenarien gehörten. Aber dann beschäftigten wir uns doch mal mit den Lebensbedingungen der üblichen Verdächtigen wie Hornkraut (Cerastium tomentosum), Polsterphlox (Phlox douglasii, Phlox subulata und andere), Blaukissen (Aubrieta), Gänsekresse (Arabis), Polsterschleierkraut (Gypsophila repens) und Steinkraut (Alyssum). Sie alle mögen prinzipiell durchlässige Böden, volle Sonne und nicht allzu viel Dünger. Begeisterung machte sich genauso breit wie die Pflanzen, als wir sahen, wie rasch sich die Lücken schlossen und nach ein, zwei Jahren kein Quadratzentimeter Boden mehr im Sommer geharkt werden musste. Selbst eher wenig geschätzte Pflanzen wie Vogelmiere, Franzosenkraut oder Melde gerieten ins Hintertreffen und der Jäteaufwand wurde geringer. Als wir dann auch noch die Schleifenblume (Iberis sempervirens) entdeckten, die sogar noch im Winter grün blieb und mit ihren persilweißen Blüten alle anderen weißen Blumen überstrahlte, gerieten wir in einen Freudentaumel. Hier war die ideale Einfassungspflanze gefunden, denn Buchsbaum mochten wir nie besonders. Und auch bei den niedrigen Federnelken (Dianthus plumarius) machten wir einen Glücksgriff, denn wir erwischten eine sehr stark duftende Sorte in weiß; ich bin allerdings bis heute nicht sicher, ob es sich um ‘Mrs. Sinkins‘ oder ‘Maischnee‘ handelte. Beide ähneln sich und die Erinnerung ist nicht so exakt nach über 30 Jahren. Da die Pflanzen perfekt wuchsen, handelte es sich wohl um ‘Maischnee‘; sie ist die etwas robustere von beiden und ich pflanze sie auch heute noch mit Vorliebe.
Mit den Jahren lernte ich noch weitere derartige Selbstläufer kennen. Als Rosenfreund sah ich mich etwa um, welche niedrigen Hofstaat-Polsterpflanzen zu den Nobeldamen gesellt werden können. Hier muss man aber zwei Dinge beachten: Zum einen müssen die Begleitpflanzen die gleichen Ansprüche haben wie die Rosen – also eher frischen, nicht allzu mageren Boden. Und zum Zweiten darf der unterirdische Wurzelausbreitungsdrang nicht zu rasant werden.
Ich setzte also einmal leicht unwissend die grüngelb blühende Euphorbia cyparissas ‘Fens Ruby‘ mit dem roten Austrieb und den grünen Hochblättern sowie den Scheinwaldmeister (Phuopsis stylosa), Sorte ‘Purpurglut‘ neben die pink und zartrosa blühenden Rosen ‘Eliza‘ und ‘Garden of Roses‘. Das hätte ich besser lassen sollen. Im ersten Jahr geriet das Ensemble perfekt, denn die Farben und Wuchsformen harmonierten vorzüglich miteinander. Im zweiten Jahr aber legten die beiden Begleitpflanzen ein invasives Wuchstempo an den Tag und wuchsen in die Rosenpflanzen hinein, ja kletterten sogar in die Triebe. Kurzerhand holte ich sie bis auf den letzten der sehr zahlreichen Ausläufer aus diesen Beetregionen und setzte sie zwischen die bereits höher gewachsenen und kräftigen Strauchrosen aus England und Deutschland. Sind ‘Gertrude Jeckyll‘, ‘A Shropshire Lad‘, ‘Gateway‘, ‘Golden Celebration‘, ‘Westerland‘ oder ‘Goldspatz‘ erst einmal eingewachsen, nehmen sie die anbrandenden Wurzelausläufer gelassen. Gleiches gilt auch für Historische Rosen wie Alba-Rosen, Gallicas, Moos- oder Damaszener-Rosen.
Ähnlich extensiv, aber leichter zu bändigen wachsen nun die sehr niedrige Weißbunte Gänsekresse (Arabis ferdinandii-coburgii ‘Variegata‘) und der Blaue Bubikopf (Pratia penduculata) zwischen den Rosen... und etwas größere Blüten in Rosa steuert der fantastische Dauerblüher namens Tauben-Skabiose (Scabiosa columbaria ‘Pink Mist‘) bei, der sich weit weniger rapide verbreitert. Erstaunlicherweise fühlt sich das fluffige niedrige Schleierkraut auch auf dem nährstoffreichen Terrain relativ wohl – vielleicht, weil ich beim Pflanzen eine Schippe Sand unter seine Füße gelegt hatte.
Nein, es gibt definitiv keinen Grund, Mutter Erde ein löchriges Kleid zuzumuten, oder sie gar mit Steinen zuzudecken. Ordnungsliebe hat im Garten andere Kategorien als im OP-Saal und sieht obendrein noch wesentlich schöner aus. Und dass freie Erdflächen oder Kiesflächen weniger arbeitsintensiv sind, als etwa ein Meer von Scheinwaldmeister ist ein Gerücht, dem ich hiermit vehement widerspreche. Jawohl!
Text und Fotos: Andreas Barlage