Hosta kann trösten
Ein Beitrag von Stefan LeppertSommerzeit, Reisezeit, es heißt, den Garten für eine Weile im Stich zu lassen. Nach dem Sommer 2018 ging mir eine Frage besonders häufig durch den Kopf: Wie sehen meine Funkien aus, wenn ich in zwei Wochen zurückkomme? Ich habe zwar die Erfahrung gemacht, dass man Funkien allerhand zumuten kann und sie, auch wenn sie nach dem Urlaub aussehen wie Straßenkatzen in Neapel, im nächsten Jahr wieder austreiben. Doch andererseits bin ich mir sicher, dass Pflanzen ein Gedächtnis haben, also auch Funkien, und dass sie sich möglicherweise eine zweite Diät nicht gefallen lassen. Immer wenn ich in England Funkien sah, dachte ich an meine zu Hause im Schrebergarten.
Mal wieder England, ja ja, langweilig, könnte man meinen. Aber solange ich mir die folgenden Fragen stelle, sobald ich hinter Dover auf kleinen Straßen in Städtchen und Dörfern unterwegs bin, fahre ich dorthin: Warum wachsen hier überall Blumen, riesige Stockrosen zwischen Bürgersteinplatte und Hausmauer, Glockenblumenteppiche rechts und links vom Eingang und aus jeder zweiten Mauerfuge sprießende Spornblumen? Warum gibt es hier keine Stabgitterzäune, Schottergabionen, ja nicht mal Flechtschutzzäune? Warum sind Vorgärten noch bunt bepflanzte Unikate und keine vom Nachbarn kopierte Schotter- oder Kirschlorbeergräber? Die Antwort meiner besseren Hälfte kam schnell: Weil es hier noch Fugen und Mauern gibt und weniger Baumärkte. Eine Antwort, die zu denken gibt, aber nur die halbe Wahrheit ist.
Die zweite Hälfte der Wahrheit erschloss sich uns im Tempelchen des Gartens von The Courts bei Trowbridge sitzend. Dieses Tempelchen ist zu einer doppelten Staudenrabatte hin geöffnet. Von hinten aus dem Waldbereich hörte ich Schritte, dann lief ein kleines Mädchen heulend den Rasenweg entlang und blieb etwa zehn Meter entfernt von uns stehen. Ein paar Sekunden später betrat Opa die Szene, indem er der Enkelin mit den Händen in den Hüften zurief, dass es kein Theater machen solle, alles gut sei und es nun kommen solle. Das Kind, nennen wir es aus Datenschutzgründen einmal Gwendolyn (ja, dieser Name wird heutzutage wirklich noch Babys gegeben!), bot Opa den Rücken, wiegte sich auf verknoteten Beinen sachte hin und her, drehte dann den Kopf halb zum Großvater, um ihn dann ganz langsam von rechts nach links zu bewegen. Das bedeutete: nein! Frustriert verließ Opa die Bühne.
Sekunden später verdeckte seine Frau meine Sicht auf Gwendolyn, doch nicht lange, denn Oma war schlauer als Opa. Ihre Stimme war Gesang, nicht Kommando, sie ging ein paar Schritte auf das Mädchen zu und (unter Ächzen) in die Knie, breitete die Arme aus und sagte dann etwas, ich erkannte Worte wie „darling“ und „ice cream“. Sofort entknotete Gwendolyn ihre Beine und lief in Omas Arme. Als die Großmutter schließlich aufgestanden war und ihr Kleid geglättet hatte, hob sie Gwendolyn hoch und mit ihr im Arm spazierten sie einander zulächelnd auf uns zu. Was das mit Stockrosen und Vorgärten zu tun hat?
Nun, zu Füßen der beiden äußeren Säulen des Tempelchens steht jeweils eine Funkie in einem Terracottatopf. Und als Oma und Enkelin daran vorbeikamen, hörte man Gwendolyns Großmutter sagen: „Look, this wonderful Hosta!“ „Hosta…“, wiederholte das Mädchen stolz und, als beide an uns vorbei gegangen waren, vernahmen wir noch einmal Gwendolyns „Hosta!“ Sofort kam mir die populär gewordene Erkenntnis von Konrad Lorenz in den Sinn: „Man liebt nur, was man kennt, und man schützt nur, was man liebt.“ Zuhause angekommen, beobachtete ich am nächsten Morgen einen Mann, der sich der Fuge zwischen Bürgersteig und Vorgartenmäuerchen mit einem Flammenwerfer widmete. Ich war kurz davor ihn zu fragen, ob er wisse, was Hosta ist. Aber für die Erklärung, warum ich ihm diese seltsame Frage stelle, hatte ich keine Zeit.
Text und Fotos: Stefan Leppert