Gedanken über Klein und Wenig
Ein Beitrag von Stefan LeppertMeiner Oma, die 1992 hochbetagt starb, haben wir alles geglaubt. Sie war eine rechtschaffene Frau, die lieber gar nichts sagte, als sich in Halbwahrheiten zu versteigen. Vermutungen gab es einfach nicht, es gab nur Fakten und das, was sie nicht wusste. Für alles, was an weltbewegenden Dingen geschah, die ihr unerklärlich schienen, hatte sie einen Standardspruch: „Die Welt steht auf dem Kopf“ oder in ihrem Regionaldialekt „De We’ilt sti’eht oppem Kopp“. Ich muss oft an meine Oma denken. Vor einem Monat zum Beispiel, also Mitte Februar. Da kletterte das Thermometer bei wolkenlosem Himmel auf 17 Grad, die Kohlmeisen schmetterten aufgeregte Balzgesänge in die Luft, Forsythien zappelten in ihren Knospen, die Schrebergärtner fingerten an ihren Samentüten herum. Etwa einen Monat später, also jetzt, bleibt die Quecksilbersäule bei 7 Grad hängen, es regnet ununterbrochen, die Meisen sind ruhig, die Schrebergärtner schärfen Rosenscheren und haben schlechte Laune. Und das soll erstmal so bleiben, also das Wetter. Meine Oma hätte wieder ihren Standardspruch gebracht.
Im Garten rührt sich zwar was, aber Petrus lässt keine Lust aufkommen, das zarte Erwachen zu würdigen. Wenden wir uns also einer schwierigen, wenn auch lebensnahen Frage zu: Was ist klein und was ist groß und was ist viel und wenig wert? Ihre Spürnase täuscht Sie nicht, richtig, ich will darauf hinweisen, dass Kleines viel und Großes wenig wert sein kann. Und damit sind wir beim Schrebergarten – der im Amtsdeutsch bekanntlich Kleingarten heißt. In diesem Titel schwingt eine Bewertung mit, die eher zu Wenig als zu Viel tendiert. Mal abgesehen davon, dass Kleingärten so groß sind wie Durchschnittsgärten in einer Neubausiedlung, möchte ich hier auf die Flächensummen hinweisen. Das scheint mir in Zeiten, in denen die Welt klimamäßig den Kopfstand probt, Insekten mit allem Drum und Dran verschwinden und Wohnungsnot in den Städten ein drängendes Thema ist, dringend geboten. Denn vielerorts ist zu beobachten, dass die Daseinsberechtigung von Kleingärten zunehmend in Zweifel gezogen wird. Nehmen wir eine Durchschnittskleingartenanlage von einem Hektar Größe: Abzüglich maximal dreißig Prozent versiegelter Fläche bleiben rund 0,7 Hektar offenes Land übrig, die, was mir wichtig scheint, nicht von Flechtschutzwänden, tapezierten Stabgitterzäunen und Schottergabionen durchzogen sind. 0,7? Diese Zahl liegt in einer Neubausiedlung bestenfalls bei der Hälfte, meist deutlich darunter.
Und damit kommen wir zum Viel und Wenig: Im Schrebergarten wird man lange nach Carports, Schotterstreifen, Trampolinen, Weber-Grill-Aufstellplätzen, Whirlpools und sonstigen Wellnessaccessoires suchen. Das Kleingartengesetz sorgt dafür, dass Garten Garten bleibt und nicht zur Experimentierfläche für Gartenverhinderung wird. In den Städten sind, nachdem viele Hausgärten zu Bauplätzen für den Sohnemann mutieren, die Schrebergärten die letzten Orte in der Stadt, an denen überhaupt noch gegärtnert wird. Ihr Wert für den Garten als kulturelle Errungenschaft (von der ökologischen, stadtklimatischen und sozialen Funktion ganz zu schweigen!) ist um ein Vielfaches höher, als er auf Stadtplanungssymposien besprochen wird – wenn Schrebergärten überhaupt darin vorkommen. Wer etwas für Schrebergärten tun will und damit für das Stadtklima, die Tierwelt, die Pflanzenvielfalt, den sozialen Austausch …., dem empfehle ich zwei Dinge. Erstens: Pachten Sie einen Schrebergarten! Oder stellen Sie zumindest einen Antrag, denn das setzt die Vereine unter Druck. Wenn Sie, zweitens, dazu keine Zeit haben, dann machen Sie wenigstens ihren Spaziergang fortan durch Kleingartenanlagen. So rücken diese wertvollen Oasen unserer Städte ins öffentliche Bewusstsein und stärken das Selbstbewusstsein der Gärtner. Daran mangelt es nämlich auch. Mit jeder geopferten Kleingartenkolonie kommen wir jedenfalls dem Standardspruch meiner Oma ein Stück näher.
Text und Fotos: Stefan Leppert