Die nächste, bitte sehr!
Ein Beitrag von Ludwig FischerJetzt hat es die nächste, längst in Gang befindliche ökologische Katastrophe in die mediale Berichterstattung geschafft, nach dem weit fortgeschrittenen Klimadesaster, nach dem galoppierenden Artensterben, nach der gigantischen Vermüllung der Ozeane, nach dem beängstigenden Verschwinden der Insekten: Nun berichten die großen Zeitungen auf Doppelseiten über die weltweite, bedrohliche Verödung und Abtötung der Böden. In Rundfunk und Fernsehen werden, inzwischen auch zu besten Sendezeiten, große Features und Dokumentationen ausgestrahlt, in denen die schaurigen Befunde aufbereitet sind, die von Forschungsinstituten, amtlichen Stellen und Umweltorganisationen seit Jahrzehnten aufgehäuft wurden: Es ist schlecht, vielfach sehr schlecht bestellt um einen großen Teil der land- und forstwirtschaftlich genutzten Böden, vor allem dort, wo die Böden agroindustriell in Dienst genommen werden, sei es für die Nahrungs- und Futtermittelproduktion, sei es für die Erzeugung von pflanzlichen Rohstoffen und Energielieferanten. Nicht etwa die anhaltende, gigantische Zerstörung von Mooren im Baltikum, in Sibirien, in Hinterindien, oder die noch viel rücksichtlosere Rodung von subarktischen, subtropischen und tropischen Wäldern wird einmal mehr von den Medien in den Fokus genommen, auch nicht die Versteppung in der Sahelzone oder das unfassbare Abräumen etwa der kanadischen Tundra – lauter extrem gewaltsame Bodenvernichtungsfeldzüge – sind diesmal Thema.
Nein, scheinbar ganz plötzlich lässt sich nicht mehr verschweigen, dass auch und gerade die Böden sozusagen vor unserer Haustür in die Gefahr gebracht werden, ›ihren Dienst zu versagen‹, sprich: nicht mehr die buchstäbliche Grundlage für unsere Ernährung und biologische Rohstoffversorgung zu bilden. Um es drastisch, aber leider zutreffend zu formulieren: Die Art, wie bei uns und in großen Teilen der Welt die Böden genutzt werden, tötet sie systematisch ab.
Wir - bzw. die Agroindustrie - machen uns offensichtlich immer noch viel zu wenig klar, dass auch die Böden lebendige ökologische Systeme sind – die sehr verschiedenen Bodenarten auf der Erde sind es auf je eigene Weise, selbst ›die Wüste lebt‹ (Walt Disney), selbst unter dem Eisschild der Antarktis hat man jetzt pflanzliches und tierisches Leben entdeckt. Und gute, humose Gartenerde ist so prall voller Leben, wie wir es uns gar nicht vorstellen können: In einer Schaufel solcher Erde sind weit mehr Lebewesen enthalten, als Menschen auf dem Globus leben – Milliarden von Bakterien, Strahlenpilzen, Algen, Geißeltierchen, Wurzelfüßlern und Wimperntierchen, viele Tausend von Rädertieren, Fadenwürmern, Springschwänzen, bis zu den ›Großen‹, den Regenwürmern, Asseln, Spinnen, Larven und Käfern. Diese lebenden Organismen verarbeiten die mineralischen und organischen Bestandteile des Bodens zu jener Mischung, die wir ›Humus‹ nennen, eine durchlüftete, lockere, nahrungsreiche, speicherfähige Schicht, die meistens nur 15 bis höchstens 40 Zentimeter dick ist, jene dünne ›Haut der Erde‹, von der alles Leben abhängt. Denn auf ihr wachsen die Pflanzen, die durch Photosynthese die Energie des Sonnenlichts unter Aufnahme von CO2 und weiteren Substanzen zu Nahrung für andere Lebewesen umwandeln können und die einen Teil des Sauerstoffs abgeben, den wir mit der Luft einatmen.
›Katastrophen‹ mit dem Verlust der Tragfähigkeit der lebendigen, genutzten Böden hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, seit Menschen Ackerbau und Viehzucht betreiben: fürchterliche Dürren oder Überschwemmungen, Kältejahre etwa durch die Verdunkelung der Atmosphäre nach großen Vulkanausbrüchen, Erdrutsche, Brände, plötzlich auftretende, riesenhafte Populationen von Schädlingen.
Aber dass die Menschen durch die Art, wie sie die Nutzung der Böden ›perfektionieren‹ wollen, die Regenerationsfähigkeit und Lebendigkeit der Böden systematisch ›untergraben‹, dieser letztlich selbstzerstörerische Umgang mit den bearbeiteten Böden ist historisch neu: Er hat in größerem Umfang erst eingesetzt, seit landwirtschaftliche Maschinen entwickelt wurden, die mit Energie aus fossilen Rohstoffen betrieben werden, und seit Kunstdünger synthetisiert wird. Etwas später kamen noch die Chemiecocktails der ›Pflanzenschutzmittel‹ hinzu.
Um es sehr verkürzt zusammenzufassen: Die immer größeren Maschinen, vor allem die heute von gewaltigen Traktoren oder Raupenschleppern gezogenen Vielschar-Pflüge, wälzen den Boden tiefgründig um und vernichten damit die in langen Zeiträumen aufgebauten, das Bodenleben ermöglichenden Strukturen. Die Maschinen und Fahrzeuge selbst – von denen inzwischen manche so viel wiegen wie ein Panzer – verdichten trotz monströser Reifen die Böden so stark, dass die humosen Schichten regelrecht zerquetscht werden, nur noch wenig Wasser aufnehmen und speichern können und gewissermaßen ihren inneren Zusammenhalt verlieren. Hinzu kommt die übliche Praxis, nach der Ernte der Feldfrüchte die Böden monatelang offen liegen zu lassen, also ohne jede Pflanzendecke, so dass bei entsprechender Witterung die nicht mehr von Wurzeln, Pilzen und verrottenden Pflanzenbestandteilen durchzogenen, obersten Bodenschichten austrocknen und als fruchtbarer ›Staub‹ weggeweht oder weggeschwemmt werden – man denke an die unermesslichen Verwehungen fruchtbarer Böden in den USA während der Dreißiger Jahre (»Dust Bowl«) oder an die Staubwolke bei Rostock über der Autobahn A 11 im Jahr 2011, die zur Massenkarambolage mit acht Toten und über 50 Verletzten führte.
Zur mechanischen Zerstörung der Böden kommt die bio-chemische: Übermäßiges Düngen der Felder (und Wiesen) mit Gülle oder Kunstdünger führt nicht nur zur Übersättigung mit Nitraten, die in tiefere Schichten absinken, bis ins Grundwasser – in Niedersachsen musste bereits fast die Hälfte der kommunalen und regionalen Trinkwasser-Tiefenbrunnen geschlossen werden. Sondern die CO2-Bindung in den Böden, die aus vergehendem und verarbeitetem Pflanzenmaterial aufgebaut wird, geht verloren, es werden Unmengen von Kohlenstoff, der in den Böden benötigt wird, durch die Bodenbearbeitung freigesetzt – die natürlichen Prozesse werden sozusagen umgedreht, so dass die agroindustrielle Landwirtschaft mit bis zu einem Drittel an der CO2-Anreicherung in der Atmosphäre beteiligt ist. Dabei könnte eine sinnvolle ökologische Bewirtschaftung über die Pflanzen enorme Mengen CO2 aus der Atmosphäre binden und wieder in den Boden einbringen.
Und sozusagen obendrauf kommt die schleichende Vergiftung der Boden durch Pestizide, Fungizide und Herbizide. Sie werden eben nicht, wie die Agro-Chemiekonzerne behaupten, entweder von den Pflanzen aufgenommen oder rasch abgebaut, sondern sie halten sich – ähnlich dem berüchtigten, inzwischen verbotenen Atrazin – oft jahrzehntelang in den Bodenschichten, sinken zum Teil tief ab und verrichten ihr tödliches Werk an den Milliarden und Abermilliarden Lebewesen gesunder, fruchtbarer Böden oder aber gelangen über das Grundwasser in die Nahrungsketten.
Das Ergebnis: Zahllose Studien belegen, dass die Zerstörung der belebten, nachhaltig fruchtbaren Böden immer noch rasant fortschreitet. Der Fachbegriff für diese Zerstörung der natürlichen Lebenskraft von Böden heißt ›Degradation‹. Nicht nur der Agrarbericht der UNO, sondern viele andere wissenschaftliche Bestandsaufnahmen stellen fest, dass weit mehr als die Hälfte aller landwirtschaftlich genutzten Böden weltweit deutlich bis stark, in immer größerem Ausmaß sehr stark degradiert sind. Die Ackerböden in den USA sind zu über einem Drittel biologisch tot, bringen Erträge nur noch über massiven Dünger- und Spritzmitteleinsatz. Die ›Abtötung‹ der Böden in den Soja-Anbaugebieten Südamerikas oder auf den Palmöl-Plantagen der Tropen wird weiter vorangetrieben. Deutschland weist die am stärksten überdüngten Böden in der EU auf, in Südoldenburg – der Hochburg der Massentierhaltung – sind weite Teile der Landwirtschaftsflächen erschöpft, biologisch ›erledigt‹.
Wenn man die Berichte über den Zustand der Böden liest, packt einen das Entsetzen. Zur landwirtschaftlichen Misshandlung kommt ja die nach wie vor ungebremste Versiegelung durch Baugebiete und Infrastrukturmaßnahmen – jeden Tag werden in der Bundesrepublik annähernd 30 Hektar nutzbares Land versiegelt, an die 10.000 Hektar pro Jahr! Die Bundesregierung hat in Brüssel die Bemühungen der EU-Kommission, dem hemmungslosen Flächenverbrauch Einhalt zu gebieten, lange Zeit hintertrieben.
Was seit gut einhundert Jahren mit den Böden, die uns doch auf unabsehbare Zeit ernähren sollen, geschehen ist und was immer weiter um sich greift, kann man nicht unmittelbar sehen. Das ›große Sterben‹ im Lebensraum Boden, eine andere Art der Vernichtung von Biodiversität, findet im Verborgenen statt. Nur einige wenige der Auswirkungen bilden sich immer wieder einmal in der Landschaft ab: riesige Verwehungen und Auswaschungen von Bodenpartikeln, Versteppungen, flächendeckende Verschlickung bei Starkregen, fehlende Widerstandskräfte der Pflanzen bei Trockenheit, rapide sinkende Artenvielfalt der Pflanzendecke.
Die entscheidenden Prozesse der Degradation spielen sich unter der Oberfläche ab, vor allem der Verlust an Humus, an belebter, nachhaltig fruchtbarer, speicherfähiger und feuchtigkeitsregulierender Bodensubstanz. Damit sich in den natürlichen Prozessen wenige Zentimeter Humus bilden, vergehen einhundert Jahre und mehr. Bei intensiver agroindustrieller Bewirtschaftung von Ackerland nimmt der Humusgehalt des Bodens jedes Jahr deutlich messbar ab.
Auch die ›Bodenkatastrophe‹ schreitet schleichend voran, lange Zeit unbeachtet oder sogar gezielt verschwiegen und geleugnet, darin dem Umgang mit dem Klimawandel vergleichbar. Jetzt sind die schon eingetretenen Auswirkungen nicht mehr zu übersehen: immer größere Schwierigkeiten bei der Trinkwasseraufbereitung, stagnierende oder sinkende Erträge auf vielen Böden, ›Rückstände‹ von Dünge- und Spritzmitteln in Nutzpflanzen, massive Auswirkungen auf die ›Restnatur‹, die naturgegebene Fauna und Flora – auch die letzte der medial aufbereiteten ökologischen Katastrophen, das große Insektensterben, hängt unter anderem mit dem Schwinden der lebendigen Vielfalt der Böden zusammen.
Aber, kann man fragen, was haben denn diese globalen Degradationsprozesse mit uns Gärtnerinnen und Gärtnern zu tun? Sind nicht unsere Gärten geradezu selige Inseln in der schier unermesslichen Weite der immer durchgreifender zerstörten Böden? Kümmern wir uns nicht liebevoll darum, dass unsere Gartenpflanzen in ›guter Erde‹ wachsen, versorgt mit allem, was sie benötigen?
Ja, auf den ersten Blick ist in den meisten Gärten die Bodenwelt ›noch in Ordnung‹. Wenn man sich aber, vielleicht aufgeschreckt durch die Warnmeldungen über Bodendegradation, etwas genauer auf den weithin üblichen Umgang mit Gartenböden einlässt, kommen einem Zweifel an der ökologischen Vernunft so mancher Routine des gängigen Gärtnerns. Davon und von den einfachen Alternativen zu solchen Routinen soll im zweiten Teil dieses Artikels zu lesen sein.
Text und Fotos: Ludwig Fischer