Gärten und das Viech mit dem C
Ich hatte mir fest vorgenommen, in keinem meiner Beiträge das Wörtchen mit dem C zu verwenden. Schon allein vom Hören des Wortes kann man mittlerweile ja schon krank werden, psychisch. Aber nach einem Anruf vor ein paar Tagen kann ich nun nicht anders, denn zwischen Corona und Garten gibt es einen Zusammenhang, mindestens einen.
Kalli, ein Bekannter aus glücklichen Freizeitfußballzeiten, hatte Langeweile und rief mich an einem Morgen an. Er war ins Homeoffice umgezogen, endlich konnte er privat telefonieren, ohne dass jemand mithört. Kalli war stinksauer. Gerade in der entscheidenden Phase der Meisterschaft komme ein Virus daher und lege alles lahm. Keine Sportschau am Samstag, nicht ein Sterbenswörtchen in der Montagszeitung über Schalke 04, Samstagabend und Montagmorgen sind für Kalli von den Superemotionskonstanten zu blutleeren Zeitspannen geworden.
Er, Berufsgrafiker und Hobbymaler, kenne eigentlich keine Langeweile, aber seltsam sei das alles schon. Viele seiner Freunde und Kollegen allerdings seien gekniffen, Zeit im Überfluss, das Sofa vor dem Fernseher habe schon Dellen, aber es käme nichts Produktives dabei heraus. Außerdem könne nicht jeder eine Leidenschaft fürs Malen haben. „Oder fürs Gärtnern!", fügte ich hinzu.
Wir hatten zwei Sonnentage im Garten hinter uns, und ich geriet regelrecht ins Schwärmen. Anfang April, jeder Schrebergärtner weiß, das ist die Zeit, auf die es ankommt: Jäten, Kalken, Düngen, Säen, man möchte sechs Arme haben. Kalli gehört leider zu den Menschen, die nur nach vorherigem Literaturstudium eine Tulpe von einer Rose unterscheiden können und zudem zu denen, die es nicht haben können, länger als zehn Sekunden einem Thema zuzuhören, mit dem sie nichts anfangen können. Ich merkte, er wurde unruhig und dann platzte er dazwischen. „Du hast gut quatschen mit Deinem Garten", unterbrach er mich – und zwar an der Stelle, an der ich mich zu der Äußerung verstieg, dass ich mit Lust und Spannung den ersten Sommerurlaub erwarte, den wir in unserem Schrebergarten verbringen würden. Ich solle mir bitte schön, so Kalli, mal eine Familie in Gelsenkirchen vorstellen, die in einer Dreizimmerwohnung an einer großen Straße lebt und für die der Malleurlaub das große Highlight des Jahres ist. Ganz arme Leute seien das jetzt, wenn die Flieger auf dem Boden bleiben müssten. „Arme Menschen," meinte ich, „ das stimmt, wenn Malle der Höhepunkt ist. In Gelsenkirchen sind jede Menge Schrebergartenparzellen frei", habe ich noch sagen können, dann legte Kalli auf.
Corona hat sich vom Virus zum gemeinen Spaltpilz entwickelt. Kalli ist wirklich ein guter Typ und normalerweise die Ruhe selbst. Aber ihm sind Leute nicht geheuer, die keinen Mundschutz tragen und sich mal Gedanken darüber trauen, dass die Italiener eventuell anders zählen als die Deutschen und damit unter Umständen wirre Zahlen kursieren und vielleicht im Verwirren eine Strategie stecken könnte, weil der Mensch in Verwirrung nach Führung sucht. Alles nur frei dahergedacht, aber das reichte schon, um uns zu entfremden. „Die Gedanken sind frei ...", ein altes Lied. Blöderweise gehört Kalli zu den zahllosen Menschen, die extrem unter dem Mangel an Sozialkontakten leiden und daher nie die Attraktivität eines Sonntagnachmittages erkennen können, den man in netter Zweisamkeit jätend, säend und hackend zubringt.
Nachdem mein Freund aufgelegt hatte, wusste ich, dass ihn schon bald sein Gewissen plagen würde. Er ist nicht von der Art, andere Leute abzufertigen. Aber ich wusste, dass es ihm schwerfallen würde, wieder zum Hörer zu greifen und irgendwas Entschuldigendes hinein zu stammeln. Deshalb schrieb ich ihm schnell eine Mail, um die Luft rauszunehmen. Aber mir war klar, dass ich beim Thema bleiben musste. Verständnis für Malle und die Gelsenkirchener Familie aufbringen? Auf keinen Fall!
Ich fing mit dem Tischtennisspielen an. Weil Kalli jetzt statt Fußball nur Tischtennis spielt, dachte ich, sei das ein guter Einstieg. Je mehr man dort lerne, desto mehr Spaß bringe es, zu spielen. Das sei mit allem so, Gitarre, Boule, Schach, beim Malen ja auch. Dann kam ich zum Schrebergarten und dass ich als Vorsitzender immer feststelle, wie unbeleckt viele Neue mit dem Gärtnern anfangen und von Jahr zu Jahr dazulernen und wie sogar die, die sonst über den Garten und seine Unkräuter stöhnen, sich in diesem Frühling wie Bolle an ihrem Fleckchen freuen und deren Parzellen so schick aussehen würden wie sonst nie.
Ich schrieb weiter, dass wir uns kürzlich zu fünft auf dem Mittelweg getroffen und im 1,50er Abstand geplaudert hätten. Einer hatte den ersten Corona-Witz erzählt, es war laut gelacht worden, wir waren nah dran, uns schon als Gesetzesbrecher zu fühlen. Deshalb riet ein Anderer leise zu sein, der Lehrer erzählte was von Erkenntnisgewinn und wurde metaphorisch. Es seien nachdenkliche Zeiten, hatte er gesagt, und es stellten sich in dieser Ruhe und Abgeschiedenheit Gedanken ein, die ihm vorher nie in den Sinn gekommen waren. Als er zwischen den Stauden nach Unkraut herumgestochert habe, seien ihm die Zierpflanzen zu regelrechten Gesellen geworden. Er habe angefangen, mit ihnen zu sprechen, dass Corona gut für jede einzelne Staude, ja für den ganzen Garten sei. Jede Pflanze sei ein virusfreies Lebewesen, das zweifellos den intensiven Kontakt mit ihm genießen würde, jeden Schluck Gießwasser, jedes Düngerkörnchen, jedes Aushebeln von Nahrungskonkurrenten würde den Gesellen gefallen und ihm, also dem Lehrer, würde gefallen, dass all diese zweifellos lebenden Wesen nicht von „diesem Viech mit C" befallen seien. Auch das Rotkelchen sei ihm sogar nähergekommen als sonst, bildete er sich ein. Was ist denn bloß mit Jockel los, schien sich jeder auf dem Mittelweg zu fragen. Jockel ist sonst ausschließlich am Rasenmäher und mit Kescher beim Algenfischen zu finden, eine Sensibilität für die feinen Aspekte hatte ihm niemand zugetraut.
Der Satz, der die Mail an Kalli abschloss, war der, dass ich noch niemanden kennengelernt habe, der dem Kontakt zur Natur völlig verschlossen gegenüber stünde und außerdem Menschen kennen würde, die erst über das Gärtnern die Anziehungskraft von Prozessen in der Tier- und Pflanzenwelt erfahren hätten und nicht mehr davon loskämen. „Als Gärtner bist Du mittendrin, als Spaziergänger mit Fernglas bleibst Du Beobachter. Das ist der Trick, Kalli." Kalli geht gerne mit dem Fernglas am Kanal lang.
Kallis Antwort kam prompt, war aber nicht besonders lang. Wenn Corona vorbei sei, würde er mit Monika gerne mal wieder vorbeikommen, „aber nicht nur zum Grillen. Dann zeigst Du mir mal was von Deinen natürlichen Prozessen!" So etwas von Kalli, das hätte ich mir nie träumen lassen, mir wurde schon fast unheimlich. Wenn Kalli nach seinem Besuch dann mit dem Gärtnern anfangen will, dann ist mir wirklich jede Zahl wurscht. Und es gibt endlich einen Grund, dem Viech mit dem C dankbar zu sein.